ATELIER OTTILIE GROSSMAYER
ATELIER OTTILIE GROSSMAYER       

Buchseiten

"das Lauschen" 2014

Hinter der Haut

Andrea Kern

 

 

Meine Freundin heißt Mañana, aber alle nennen sie Maja. Ihre Mutter hat ihr diesen Namen gegeben, ihr Mutter die Schriftstellerin. Die Schriftstellerin löffelte Maja Verben in den noch zahnlosen Mund. Sie puderte ihre Babyhaut mit Adjektiven ein und und badete ihre kleine Tochter in Nomen. Als Maja fünf Jahre alt war, starb die Mutter bei einem Autounfall, zwei Wochen später fing Maja an zu sprechen. Mit dreizehn begann Maja um ihre Mutter zu trauern, damals wollte sie für den Rest ihres Lebens nur noch schwarz tragen, aber sie gab es auf, als sie sich fünf Jahre später verliebte.

Maja ist einen Meter zweiundsechzig klein und häufig überzeugte Sozialistin, manchmal auch

Anarchistin – je nachdem, wie sie gerade die Welt sieht. Maja raucht ausschließlich Zigaretten mit schwarzen Filtern, und stark sind sie auch. Starke Zigaretten geben ihr mehr Halt als Menschen.

Sagt sie.

Jede Nacht gehen wir aus, dafür zieht Maja ein schwarzes, geschlitztes Samtkleid an. Und streift eine Maske aus flatternden Floskeln und schwirrendem Lachen über. Es ist der Versuch sich in die Zahnräder des gesellschaftlichen Uhrwerks einzuklinken und in den Bewegungen der homogenen Masse unterzugehen. In den schummrigen Lokalen scharren sich Männer um Maja, streifen ihren Oberschenkel, berühren ihre Schulter, greifen nach ihrem Haar. Sie pustet ihnen Rauch in den Mund und Glitzer auf die Augäpfel. Zwei Welten prallen dann aufeinander und manchmal übertritt Maja die dünne Linie dazwischen, nimmt Hans oder Peter oder Stefano mit zu sich. Manchmal geht sie auch nur mit mir nach Hause. Wenn wir nachts durch die Straßen gehen, springt sie auf geparkte Autos, wie ein lautloses Raubtier macht sie das. Ich sage zu ihr: „Lass das. Du bringst dich nur in Schwierigkeiten. Ich will dich nicht andauernd retten müssen.“ Maja sagt: „Ich bin nicht zu retten.“ Abends im Bett muss ich dann weinen.

Tagsüber trinken wir russischen Wodka und hören Platten mit angekratzten und bereits vollständig zerkratzten Stimmen. Dabei liegen wir auf einem zerschlissenen Sofa, wo unsere Körper sich umeinander wickeln, als wären sie aus Gummi. Niemand könnte bei unserem Anblick erahnen , dass unsere Lippen sich noch nie berührt haben. Einmal flüstere ich dabei in ihr Ohr: „Ich möchte dich gerne einmal sehen. Nur einmal wirklich sehen. Nur einmal möchte ich hinter dein Gesicht, unter deine Haut, in deine Eingeweide sehen können.“ Maja lächelt nur darüber.

Es gibt feingliedrige Momente, wo ich glaube, endlich in Maja hineingegriffen zu haben, doch wenn ich die Hand zurückziehe finde ich nur weißen Sand und farblosen Glanz unter meinen Nägeln kleben. Maja ist eine Ästhetikerin. Raffiniert konstruierte Worte erfreuen sie mehr als ehrliche Taten. Deformationen bleibt sie länger treu als vollkommener Symmetrie. Unglück ist ästhetischer als Glück.
„Das Unglück ist realistischer als Glück“, sagt sie, „man bekommt es auch einfacher, muss sich kaum darum kümmern. Und wenn es da ist, kann es ausgeführt werden und alle freuen sich darüber. Du selbst gewöhnst dich daran, und später einmal lächelst du und erzählst dazu eine funkelnde Geschichte.“ Der Tod ihrer Mutter hat sich in Maja eingegraben, manchmal glaube ich Friedhofserde und Augenwasser und Sehnsucht in ihren Worten zu hören. Es könnte aber auch eine Täuschung sein. „Dadurch dass sie so früh gestorben ist konnte ich meinen Elektrakomplex nie ausleben“, erklärt sie den Männern, die an ihren Lippen hängen. Eines Nachts erzählt sie mir: „Es ist gut, dass sie tot ist.“ Ihrem Vater gegenüber bemerkt sie einmal: „Mutter hätte uns auf Dauer getötet. Oder sich selbst.“ Der Vater stöhnt unter solchen Sätzen, versucht noch mehr Schweigen und Stille und Lautlosigkeit in seinen Mund zu zwängen. Doch einmal schreit er: „Verschwinde! Ich will dich nicht mehr ansehen müssen!“

Dann geschieht das Unfassbare: Zum ersten Mal in ihren Leben gehorcht Maja. Endlich will sie

eine gute Tochter sein. Sie verlässt den Vater. Ich beobachte sie von meinem Fenster, als sie auf der anderen Straßenseite eine Fahrkarte für den Bus löst. Eine schöne Knochenansammlung, mit Haut überzogen. Ich laufe zu ihr hin. Der Asphalt zittert heiß und stinkend.

„Bleib doch“, sage ich zu ihr. „Du musst nur ruhiger werden. Noch etwas weniger Gesicht zeigen. Ein bisschen glücklicher werden. “

Maja schüttelt wortlos den Kopf. Der Bus kommt und sie steigt ein. Ohne ein Wort.

„Wann kommst du zurück?“, rufe ich ihr nach. „Wann kommst du wieder?“

Doch Maja ist ein Schöngeist, und um der Ästhetik willen gibt sie dem Unglück Vorrang. Das ist meine Erklärung. Sie wird nie mehr zurückkommen.

Vielleicht funktioniert das Leben so, wie Maja es mir mit Worten gemalt hat. Dann brauche ich bloß auf unserem Sofa zu liegen und zu warten, dass die Zeit vorbeizieht. Maja wird zu einem pointilistischen Gemälde werden, das nur hinter gepressten Augenliedern Sinn bekommt. Ich werde mich daran gewöhnen, und irgendwann lächle ich nur noch darüber und erzähle darüber eine  Geschichte.

"neue Räume öffnen sich" 2014

Am Ende kommt immer der Schluss

Sabine M: Gruber

 

 

Werde ich jemals in der Lage sein das Gefühl zu beschreiben? Ich bezweifle es. Wo ich es doch nicht einmal grammatikalisch im Griff habe. Die Zeit, zum Beispiel, schon die Zeit bleibt unbestimmbar. Anfühlte? Anfühlt oder angefühlt hat; aufhörte, aufhört, aufgehört hat; habe oder hatte. Ich meine, werde ich jemals in der Lage sein in Worte zu fassen, wie es sich anfühlt, dass die Frau, deren Am-Leben-sein ich mein Am-Leben-sein verdanke, dass die Frau, die mir dieses eine Leben, das ich habe und jemals haben werde, geschenkt hat, dass diese Frau, die einzige Mutter, die ich

habe und jemals haben werde, eines Tages aufgehört hat am Leben zu sein, einfach so?

Aber ich hätte mich doch vorbereiten können, auf dieses Gefühl, nicht wahr, denn war sie denn nicht schon in einem gesegneten Alter? Nein. War sie nicht. Und nein. Hätte ich nicht. Wie hätte ich mich auf das Nichtsein meiner Mutter vorbereiten sollen?

Erst seit sie tot ist, weiß ich, wie sich das anfühlt. Dass sie nicht mehr da ist. Und ich kann es nicht beschreiben.

Es ist kompliziert. Als sie nicht mehr da war, haben Teile von mir aufgehört zu existieren, oder vielmehr Teilchen. Oder sollte ich besser sagen: seit sie nicht mehr da ist? Oder müsste ich sagen:

weil sie nicht mehr lebte. Oder lebt.

Ich kann nicht sagen: Da ist eine große Leere. Nein, das ist es nicht. Da sind lauter kleine Teilchen, die aufgehört haben zu sein, in mir, wo auch immer das ist. Partikelchen, so unzählig und so winzig, dass ich sie nicht orten kann. Ein Sieb? Wäre mein Zustand etwa mit einem Sieb vergleichbar? Nein, wäre er nicht. Denn die Löcher in einem Sieb sind vorhersehbar, sie folgen einem Muster und sind gleichmäßig verteilt. Sie haben eine fixe Größe und einen angestammten Platz. Die Löcher jedoch, die entstanden sind und immer noch entstehen, weil meine Mutter da war und jetzt nicht mehr da ist, sind unvorhersehbar. Sie sind variabel. Sie kommen und gehen. Sie wandern. Sie öffnen und schließen sich. Sie verändern ihre Größe. Sie verformen sich. Ihre Ränder sind glatt oder weich oder scharf gezackt. Dabei füllen sie sich ständig mit winzigen Teilen von Bildern, und sobald ich die Hand danach ausstrecke, greife ich ins Leere. Nur mehr ein Bild des Bildes huscht über meine Hand, durchscheinend, haltlos.

Ich habe es geahnt, und meine Ahnung trieb mich dazu um ihr Leben zu kämpfen. Fieberhaft. Rastlos. Verzweifelt. Ohne zu wissen, wie es sich anfühlen würde, wenn sie nicht mehr am Leben wäre, habe ich um ihre Liebe zu diesem einen Leben, das sie immer noch hatte. Denn solange sie das leben liebte, würde sie leben.

In meiner Verzweiflung war ich heiter, und über jeden Augenblick, den ich mit ihr teilen konnte war ich glücklich. Selbst während sie das Bewusstsein verloren hatte, war ich zuversichtlich. Solange sie lebte, hoffte ich. Inständig. Unermüdlich.

Sie wachte auf und sagte: Ich will noch nicht sterben.

Das machte mir Mut.

Ich saß bei ihr. Ich hielt ihre Hand. Ich las ihr Gedichte vor. Ich fütterte sie. Ich strich über ihren Kopf. Ich ließ sie Musik hören. Das ist schön, sagte sie.

Eines Tages sagte sie: Jetzt ist Schluss.

Ich wollte es nicht glauben, obwohl ich es wusste. Ich wollte wiederkommen, bei ihr sitzen, ihr vorlesen, sie füttern, sie Musik hören lassen, über ihren Kopf streichen und sie sagen hören: Das ist schön.

Einen Tag später verlor sie das Bewusstsein und erlangte es nicht wieder. Als sie aufhörte, am Leben zu sein, in der darauffolgenden Nacht, war ich nicht bei ihr.

Ich war gar nicht an dem Ort, an dem meine Mutter gerade eben noch gewesen war, als ich die Nachricht erhielt, dass sie aufgehört hatte, am Leben zu sein, welchen Unterschied konnte es also machen. Werde ich jemals Worte finden, den Unterschied zu beschreiben? Ich bezweifle es.

 

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